Harmonische Gläser Ein Amerikaner in London Wir schreiben das Jahr 1762. Benjamin Franklin ist seit fünf Jahren in London. Er ist kein Unbekannter, zumindest in Fachkreisen. Seine Beiträge zum neuen Wissenschaftsgebiet der Elektrizität und die Kunde von der Erfindung des Blitzableiters waren ihm voraus geeilt. Die „Royal Society“ hatte ihn bereits vor seiner Ankunft in der Themsestadt als Mitglied aufgenommen und die „Sir Godfrey Coples Medaille“ war ihm auch schon verliehen worden. Der erfolgreiche Unternehmer aus Philadelphia war jedoch nicht als Forscher zu wissenschaftlichem Gedankenaustausch gekommen sondern als entsandter Unterhändler, der die britische Kolonie Pennsylvania gegenüber höchst einflussreichen Kreisen des britischen Königreichs vertrat. Hehre Ziele wie „Unabhängigkeit vom Mutterland“ und „Erklärung der Menschenrechte“ standen dabei noch nicht auf der Tagesordnung. Es ging um profane Fragen wie Gebietskonzessionen, Steuern, Abgaben und sonstige zu liefernde Leistungen. Bis der König einen Beschluss des Geheimen Rats billigt, bedarf es zäher Verhandlungen. An deren Ende erreicht Franklin, dass die Familie Penn (die ihrer Privatkolonie den Namen „Pennsylvania“ aufdrückte) für ihre Interessen in der Neuen Welt 100.000 ₤ zu zahlen hat. Man kann also kaum sagen, dass es Langeweile war, die Franklin dazu trieb, sich fern der Heimat mit viel Energie einem weiteren Projekt zu widmen. Auf einem Gebiet, das mit seinen bisherigen Interessen allenfalls als Hobby zu tun hatte. Franklin spielte in der Freizeit ganz passabel Harfe und Gitarre. Was weckte nun den Ehrgeiz in ihm, ein Musikinstrument zu entwickeln, die Glasharmonika? Musikalische Kurzweil und ein tragisches Ende London war im achtzehnten Jahrhundert eines der Zentren europäischer Musik. Nicht nur, dass Händel hier lebte und wirkte und sich zahlreicher Konkurrenten „ernster“ Musik erwehren musste. Jeder musikalische Geschmack wurde bedient, in Opernhäusern, Konzerthallen, Wirtshaussälen. Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Spielen auf Trinkgläsern, eine Kuriosität, über die der seriöse Musikfreund heutzutage die Nase rümpft. Damals nahm man das unverkrampft. Der zu Franklin’s Zeiten bekannteste Virtuose auf diesem Instrument war nach seinen eigenen Angaben ausgebildeter Musiker, mehr noch indes Multitalent, im übrigen gebürtiger Ire, denen ja gerne eine musikalische Ader und ein genialischer Geist nachgesagt wird. Der umfangreiche Besitz seiner Familie befand sich in Aghnamallagh im County Monaghan. Der Künstler hatte im Alter von 25 Jahren ein beruhigendes Erbe angetreten und brauchte sich daher nicht allzu sehr mit schnödem Gelderwerb aufhalten, sondern konnte sich ausgiebig der Umsetzung seiner Ideen widmen. Er erfand Schiffe aus wehrhaftem Eisen, die jedem Beschuss stand hielten, allerdings von selber sanken. Er entwarf einen Kanal quer durch seine Heimatinsel, den keiner bezahlen konnte. Er plante riesige Gänsefarmen. Nicht, um die Töpfe einer steigenden Bevölkerungszahl mit Fleisch zu füllen sondern die Tintenfässer einer zunehmenden Zahl Schreibkundiger mit Federkielen. Um einen uralten Wunsch des Menschen zu erfüllen, bastelte er Flügel, mit denen man sich in das luftige Element erheben konnte, voraus gesetzt, man verfügte über die Brust- und Armmuskulatur eines Herkules. Alles in allem jemand, der einem nüchternen Forscher wie Franklin eher fremd war. Dieser Mann hieß Richard Pockrich. Irgendwann eröffnete er in Dublin eine Brauerei und Destille. Ihre Lage in der Nähe der Island Bridge war umsatzträchtig. Dennoch standen eines Tages die Gerichtsvollzieher vor der Tür und wollten ihn in den Schuldturm werfen. Er versprach, widerstandslos folgen zu wollen, solange er nur noch ein letztes Mal wenige Takte auf seinem heiß geliebten und von ihm selber erfundenen, unvergleichlichen Instrument spielen dürfe. Die Amtsdiener ließen sich nach einigem Bitten und Betteln auf eine unverbindliche Hörprobe ein. Eine Flasche Selbstgebrannter erleichterte den Entschluss, noch einen Moment zu verweilen. Pockrich reihte einen Satz gläserner Pokale auf, stimmte sie mit genau bemessenen Mengen Wasser und brachte die Gläser äußerst gefühlvoll zum Klingen. Die Büttel waren so betört, dass sie auf seine Festnahme verzichteten und ohne ihren Delinquenten davon zogen. Dieser Erfolg ermutigte Pockrich. Im Februar 1744 trat er mit dem von ihm nicht unbescheiden „angelick organ“ („engelhafte Orgel“) genannten Instrument in einer großen Auktionshalle in Dublin auf. Gleich danach begann er eine Tournee. Die doppelte Funktion von Gläsern klingt in der Werbung für seine Auftritte an. Die Konzerte sollen nahtlos in Tanzabende, Kartenspielrunden und sonstige Geselligkeiten übergehen. Wer glaubt, nur zum finalen Saufen kommen zu können, wird enttäuscht. Das Konzert ist obligatorisch, dafür abwechslungsreich. Pockrichs Repertoire umfasst ein breites Spektrum an Improvisationen und Variationen von Klassischem und Populärem. Vivaldi scheint es ihm besonders angetan zu haben, aber auch Boyce und Händel. Dessen Wassermusik fehlt bei keiner Vorstellung. Dublin und Umgebung werden bald zu eng als Wirkungskreis. Pockrich setzt auf die größere Insel über, unternimmt Konzertreisen nach London und in andere Städte. Seine Veranstaltungen sind Publikumserfolge, nur einmal muss er absagen und das nicht wegen mangelnden Interesses. Als er die Vorbereitungen für einen Auftritt in einem großen Saal arrangiert und seine Gläser ausgerichtet und gestimmt hat, rast eine ausgewachsene Sau in den noch leeren Saal und rammt den Tisch mit der fragilen Last. Übrig bleibt nur ein Haufen Scherben. Entsprang daraus die Idee, die lose herum stehenden Gläser besser zu sichern, sie fitter für Transporte und Konzerte zu machen? Jedenfalls nimmt Pockrich eine stabile Platte, befestigt die empfindlichen Klangkörper darauf und nennt sich Erfinder der „musical glasses“ (musikalische oder klingende Gläser, auch als Glasharfe bekannt). Sein Erfolg ruft schnell Nachahmer auf die Bühne, die an der steigenden Popularität partizipieren wollen. Schon bald treten weitere Interpreten mit unterschiedlichem Repertoire und Anspruch auf. Im April 1746 künden Plakate in London das Konzert eines in der Metropole bis dahin noch wenig bekannten Künstlers an. Der will im Großen Saal von Hickford’s Gaststätte mit Orchester und einem Instrument auftreten, das kein anderer als er selber erfunden haben will. Es besteht aus 26 mit Wasser gestimmten Trinkgläsern, auf denen er laut Ankündigung alles ausführt, was ansonsten auf einer Violine oder einem Cembalo geboten wird. Sein Name ist Christoph Willibald Gluck. Selbst eingefleischte Opernfreunde wissen meist nichts von dieser frühen Karrierephase des berühmten Komponisten. Die Spuren von Pockrich verlieren sich zwischenzeitlich. Zu Beginn des Jahres 1758 brennt seine Frau mit einem Schauspieler durch, nur für kurze Zeit, aber mit fatalen Folgen. Auf der Rückreise zum heimatlichen Dublin kentert das Schiff, auf dem das Paar die Passage gebucht hat und geht unter. Beide zählen zu den Opfern des Unglücks. Pockrich ist danach, aus Kummer, Geldnot oder beidem, wieder auf Tournee. John Carteret Pilkington, eine der bekanntesten Skandalfiguren seiner Zeit, begleitet ihn für einige Zeit als Sänger. In Hamlin’s Coffee House, nahe der Getreidebörse von London, gibt Pockrich eine Konzertserie, die äußerst gefragt und daher für die Dauer von neun Wochen angesetzt ist. So erfreulich die Aufführungsreihe sich anlässt, so abrupt und tragisch ist ihr Ende. Am 11. November 1759 bricht ein Feuer aus, das mehrere Häuser zerstört, darunter die Herberge in der Sweeting Lane, in die Pockrich sich einquartiert hat. Er wird im Schlaf vom Feuer überrascht. Weder er selbst noch sein Instrument können gerettet werden. Klingende Gläser in akademischen Kreisen Zu der Zeit weilte Benjamin Franklin seit zwei Jahren in London. Ob er Pockrich persönlich kannte, weiß man nicht. Kühl kalkulierende Geschäftsleute bringt man normalerweise nicht mit Hasardeuren vom Schlage eines Pockrich und dessen schunkelig populärer Musik in Verbindung. Franklin hat die Klänge der Glasharfe vermutlich im Konzertsaal einer der berühmten alten Universitäten kennen gelernt. Dort lauschte man gerne Edward Hussey Delaval, Fellow of Pembroke Hall, Fakultät Chemie und experimentelle Philosophie, Spezialgebiet Elektrizität. Der Zulauf der akademischen Kreise von Oxford, Cambridge, London zu seinen Konzerten ist beachtlich. Die Presse berichtet über seine Auftritte, was die Popularität seines „Instruments“ zusätzlich steigert. Klingende Gläser gehören bald in vielen Familien zum festen Bestandteil gepflegter Hausmusik. Lehr- und Übungsbücher werden gedruckt. Einfühlsamer Vortrag des akademischen Virtuosen und einzigartiger Klang seiner Gläser haben Franklin wohl beeindruckt. Aber ließ sich die musikalische Wirkung nicht noch steigern? Der Techniker Franklin erkennt sofort konstruktive Nachteile. Will man einen weiten Tonumfang erreichen, bedarf es einer großen Anzahl von Gläsern. Daraus resultieren beachtliche Abstände zwischen den einzelnen Klangkörpern, was ihre Spielbarkeit erschwert. Mehrstimmige Akkorde zu halten, ist kaum möglich. Schnelle Läufe schaffen nur ausgesprochen talentierte und geübte Spieler. Und überhaupt, passt die Tatsache, dass jemand Trinkgefäßen Töne entlockt, zu anständiger Musik? Genie trifft Muse Franklin hat einen zündenden Einfall, der in seiner Einfachheit besticht. Statt die Finger des Spielers über den Rändern der Gläser kreisen zu lassen, sollen die unter seinen Fingern rotieren. Er macht sich ans Werk, muss jedoch feststellen, dass die Umsetzung seiner Idee schwieriger ist als erwartet. Nicht, weil seine Konstruktion zu kompliziert ist, im Gegenteil. Er will lediglich die Gläser auf eine Stange stecken und diese in Drehung versetzen. Natürlich keine Trinkgefäße sondern speziell geformte Glasglocken, die so geformt sind, dass sie ineinander gesteckt werden können. Dann liegen die Ränder nah beieinander. Das Ganze ähnelt einer Tastatur, die schnelle Läufe und gehaltene Akkorde ermöglicht. Der Glasbläser muss dabei so exakt wie möglich arbeiten, denn die Glocken können später (durch Schleifen am Boden) nur begrenzt nachgestimmt werden. Franklin testet Material, Größe und Form der Gläser und ermittelt 25 Typen, von denen er jeweils sechs Exemplare anfertigen lässt. Mit den zu erwartenden Fertigungstoleranzen hofft er, am Ende mindestens einen Satz von 37 aufeinander abgestimmten Glocken auswählen zu können. Womit sein Instrument drei Oktaven umfassen wird. Klingt einfach, aber der Teufel sitzt im Detail. Die Glocken müssen nämlich fest genug auf der Stange sitzen, damit sie nicht aneinander scheppern. Zu fest dürfen sie auch nicht darauf gepresst werden, sonst bersten sie. Für seinen Handwerker, den Glasbläser Charles James, ist die Aufgabe eine echte Herausforderung. Die Fertigstellung verzögert sich immer wieder. Franklin macht Druck, experimentiert selber herum, verbohrt sich so sehr in sein Projekt, dass sein Widersacher Thomas Penn sich eines Tages beim Gouverneur beschwert, Franklin würde seine ganze Zeit mit musikalischen Übungen verbringen. armonica.de
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