Virtuosinnen Steile Karriere und tiefer Fall der ersten Virtuosin Endlich, zum Herbst des Jahres 1761, ist das erste Exemplar hergestellt. Franklin nennt sein Instrument „armonica“, womit er den von ihm so geschätzten Eigenschaften Wohlklang und Harmonie Ausdruck verleihen will. Den italienischen Namen wählt er als Referenz an die „Sprache der Musik“. Es mag angehen, dass Männer mit launigen Klängen von Trinkgefäßen Abendgesellschaften bei Stimmung halten. Derlei musikalische Kurzweil hatte Franklin mit der Glasharmonika allerdings nicht im Sinn. Ausdrucksstark und gefühlvoll soll sie gespielt werden, als Interpretin kommt für ihn nur eine Frau infrage. Seine erste Glasharmonika überreicht er persönlich einem Teenager namens Marianne Davies. Sie stammt aus einer Familie von Musikern und stand bereits mit sieben Jahren als Cembalistin auf der Bühne. Die mittlerweile Siebzehnjährige erweist sich als talentierte Schülerin. Mit Beginn des Jahres 1762 tritt sie in London und näherer Umgebung auf. Nicht viel später führen erste Konzertreisen auch in weiter entfernt liegende Städte. Als Franklin im August 1762 England in Richtung Heimat verlässt, kann er mit dem Erfolg seiner Erfindung zufrieden sein. In Kreisen von Musikliebhabern ist die Glasharmonika derart positiv aufgenommen worden, dass schon bald Produktpiraten Nachbauten anbieten. Seine persönliche „armonica“ wird gerade noch rechtzeitig vor der Abreise fertig. Sie übersteht die raue Passage über den Atlantik unbeschadet. Auch 1763 gibt Marianne Davies das ganze Jahr über Konzerte. Im Frühjahr 1764 kommt der achtjährige Wolfgang Amadeus Mozart nach London. Das junge Genie und seine Schwester sind die musikalische Attraktion der Saison. Marianne Davies ihrerseits geht auf Tournee nach Paris, wo Anglomanie herrscht und der Maler Desrais sie mit ihrer Glasharmonika malt. Über eines der Konzerte der jungen Engländerin berichtet sogar ein Artikel im weit entfernt erscheinenden Hannoverschen Magazin. Die Presse schreibt in unregelmäßigen Abständen immer wieder mal über das wundersame Instrument des berühmten Franklin. In den nächsten Jahren tritt Marianne Davies in unterschiedlichen Städten der britischen Insel auf. Schließlich beginnt sie in Begleitung ihrer Familie gegen Ende des Jahres 1767 eine Tournee auf das Festland, die insgesamt sechs Jahre dauern wird. Nach mehreren Auftritten im heutigen Belgien reist sie entlang des Rheins nach Süden. Unterwegs lässt sie keines der von ihren musikbegeisterten Fürsten kostspielig errichteten Konzerthäuser aus. Antwerpen, Leuven, Bonn, Mainz, Darmstadt, Hanau, Schwetzingen sind einige der architektonischen und künstlerischen Glanzlichter. Nach fast einem Jahr kommt Familie Davies in Wien an und wird schnell bekannt. Im Juni 1769 erhält Marianne anlässlich einer fürstlichen Hochzeit die Einladung, das neue Instrument mit gesanglicher Begleitung ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester Cecilia am kaiserlichen Hof zu spielen. Hasse und Metastasio, das zu dieser Zeit wohl berühmteste Paar Musikschaffender, schreiben den beiden Schwestern eigens eine Kantate. Metastasio nennt den Klang des neuen Instruments „superb“. Die Presse spricht von einem Instrument der „elektrischen Musik“. Nicht nur, dass die Kaiserin noch mehrfach Mariannes Konzerten beiwohnt, sie darf ihren Töchtern Musikunterricht erteilen, auch Maria Antonia, der künftigen Königin von Frankreich. Rund zwei Jahre bleibt Marianne in der Hauptstadt des k. u. k. Reichs. In dieser Zeit lernt sie den aufstrebenden Mozart kennen, dem sie in einem Mailänder Hotel wieder begegnen wird, als die beiden, unterwegs auf Tournee, dort zufällig zur gleichen Zeit absteigen. Dem Arzt und Magnetiseur Franz Anton Mesmer, in dessen Wiener Haus Mozart verkehrt, bringt sie die Glasharmonika nahe. Die Mozarts hören den Hausherrn einmal spielen und Vater Leopold schreibt an seine Frau, dass Mesmer „recht gut die Harmonica der Miss Devis spielt“. Sohn Wolfgang wünscht etwas neidisch, auch eine zu besitzen. Einige Jahre später wird Gluck in Paris Mesmer hören und ihm wohlwollend empfehlen, er solle nie nach Noten spielen sondern immer leicht improvisierend dem Instrument seine wahren Stimmungen entlocken. Nachdem sie sich reichlich mit Empfehlungsbriefen versorgt hat, beschließt Marianne, ihr Glück in dem Land zu versuchen, das wie kein anderes für Musik steht, Italien. Der Aufenthalt dort erweist sich als wenig erfreulich. Die Italiener wollen zwar gerne das kuriose Instrument mit diesem vertraut klingenden Namen kennen lernen. Insgesamt lässt es sie aber, ebenso wie Mariannes Vortrag, kalt. Selbst in Florenz, das in jenen Tagen fest in der Hand eben der Engländer ist, die ihren Konzerten auf der britischen Insel begeisterten Applaus zollen, hat sie nur wenige Auftritte. Die Enttäuschung über den Misserfolg ist groß. Ihre Schwester Cecilia dagegen beginnt als „l’Inglesina“ an der Oper zu reüssieren und wird Prima Donna. Für Marianne kommt es noch schlimmer. Sie erkrankt an einem rätselhaften Nervenleiden, wie es zahlreiche Leute befallen soll, die intensiv die Glasharmonika spielten. Im Januar 1778 reisen die beiden Schwestern und ihre Mutter nach Paris, um für Marianne ärztliche Hilfe zu finden. Mittlerweile ist Franklin in der französischen Hauptstadt angekommen. Er soll beim Erzfeind der Engländer Unterstützung für die sich gerade formierenden Vereinigten Staaten suchen. Die Davies treffen Verabredungen mit Franklin, sagen sie aber unter Hinweis auf Mariannes Zustand immer wieder ab. Welchen Arzt Marianne in Paris aufsucht, ist nicht bekannt. Mesmer, der dort bald darauf als „Modearzt“ einen sagenhaften Erfolg haben wird, war es wohl nicht. Er hat nach einem gehörigen Skandal gerade Wien verlassen. Ob man es Abreise, Vertreibung oder Flucht nennen will, sei dahin gestellt. Unterwegs macht er in Straßburg Station bei den hochwohlgeborenen und mächtigen Rohan. Eines der Familienmitglieder, ein Kardinal, wird im Zentrum der Halsbandaffäre stehen, bei der es für die französische Königin Marie-Antoinette zwar noch nicht um Kopf und Kragen aber um einen dramatischen Gesichtsverlust geht. Mesmer kommt Ende Februar 1778 in der französischen Hauptstadt an und eröffnet alsbald eine Praxis. Auf der Suche nach Engagements reisen die beiden Schwestern weiter durch Europa. Cecilia erlebt immer wieder gefeierte Auftritte. Marianne ist nicht gefragt. In einem Brief, den sie 1783 an Franklin schickt, bittet sie ihn, niemandem Hinweise zu geben, wie man die Glasharmonika richtig spielt, damit nur sie allein es kann. Da ist die von Franklin geschriebene - keineswegs einzige - Anleitung schon lange gedruckt und verbreitet. Wie verzweifelt oder verwirrt mag sie gewesen sein, um zu glauben, der Erfinder des Instruments wolle oder könne dessen Erfolgsgeschichte aufhalten, zu der sie selber mit ihren Auftritten nach besten Kräften beigetragen hat. Schließlich sinkt auch der Stern der Inglesina. 1785 findet Lord Edgcombe die Davies Schwestern völlig mittellos in Florenz. Es gelingt ihm, in der englischen „Kulturkolonie“ ausreichende Gelder aufzutreiben, um ihnen das Überleben und schließlich die Rückreise nach England zu ermöglichen, wo sie fortan ein ärmliches Leben fristen werden. Unrühmliches Zwischenspiel Während Marianne Davies vergeblich versuchte, in Italien an ihre Erfolge auf der nördlichen Seite der Alpen anzuknüpfen, begann die Glasharmonika, sich dort als gefeiertes Modeinstrument durchzusetzen. Ungewollt hatte die Davies diese Entwicklung selber in Gang gebracht. Anlässlich ihres Konzertes beim Markgrafen in Rastatt im August 1768 verschafften sich Kapellmeister Joseph Aloys Schmittbaur und Hoforganist Philipp Joseph Frick nächtens Zugang zu dem Instrument, vermaßen es und fertigten technische Skizzen an. Frick beginnt schon wenige Monate später mit seiner abgekupferten Glasharmonika halb Europa zu bereisen und wirkt schließlich mehrere Jahre in Moskau und St. Petersburg. Schmittbaur bleibt lieber auf seinem einträglichen Posten und macht sich allmählich als Hersteller von und Ausbilder an Glasharmonikas einen Namen. Dieser Raub geistigen Eigentums war zwar entscheidend für die weitere Verbreitung der Glasharmonika. Er war aber nicht der erste. Wie antriebsarm der Glasbläser James auch immer gewesen sein mag, solange er in Franklin’s Auftrag tätig war. Sobald der auf dem Atlantik schipperte, bot James die Franklin‘sche Harmonika aus eigener Werkstatt an und warb damit, für den großen Erfinder gearbeitet zu haben. Welchen Erfolg er damit hatte, ist nicht überliefert. Zumindest ein Exemplar gab es aber in jenem August 1768 in London bereits. Da besucht nämlich Legationsrat Helferich Sturz die hoch angesehene siebenundzwanzigjährige Angelika Kauffmann. In ihrem Atelier spielt sie ihm vor und er gerät ins Schwärmen. „Wenn sie, vor ihrer Harmonika, Pergolesis Stabat singt, ihre großen, schmachtenden Augen … gottesdienstlich aufschlägt, und dann mit hinströmendem Blick dem Ausdruck des Gesangs folgt, so wird sie ein begeisterndes Bild der heiligen Cäcilia.“ Nachdem sie als Gehilfin ihren Vater, einen Porträt- und Wandmaler, mehrere Jahre auf einer Reise durch die Schweiz, Österreich und Italien begleitet hatte, war die Kauffmann im Juni 1766 in London angekommen. Früh genug, um von Marianne Davies zu hören und eines ihrer Konzerte besuchen zu können. Von einem persönlichen Treffen mit der um drei Jahre jüngeren Musikerin ist nichts bekannt. Kometenhafter Aufstieg eines Musikstars Am 5.Juni 1769 wird im nicht weit von Rastatt entfernten Bruchsal Marianne Kirchgessner geboren. Im Alter von vier Jahren erkrankt sie an Pocken und erblindet in deren Folge am Schwarzen Star. Wie ihre Geschwister ist sie musikalisch begabt, die Eltern fördern ihr Talent. Ein Mäzen, der Reichsfreiherr von Beroldingen, vertraut sie 1780 Schmittbaur an und stiftet ihr eine Glasharmonika im Wert von 100 Gulden. Schmittbaur erkennt in der Kirchgessner ein außergewöhnliches Talent, das es zu fördern gilt. Die Ausbildung wird zehn Jahre dauern. Ihrer Methode, Stücke einzustudieren, wird sie Zeit ihres Lebens treu bleiben. Notenblätter nutzen ihr wenig. Sie lässt sich ein Stück zweimal vorspielen und spielt es dann blind nach. Komponisten, die ihr später Stücke widmen, sind immer wieder erstaunt über ihr enormes musikalisches Gedächtnis. Im Februar 1791 tritt die Kirchgessner, zweiundzwanzig jährig, eine Tournee an. Tournee kann man es kaum nennen. Die junge Frau wird fast zehn Jahre nahezu ununterbrochen auf Achse sein. Marianne Kirchgessner gilt sehr bald als die einfühlsamste und ausdrucksstärkste Interpretin an der Glasharmonika, die man sich überhaupt vorstellen kann. Wo immer sie spielt, schlägt sie die Zuhörer in Bann. Im Mai 1791 komponiert ihr Mozart das Harmonikaquintett „Adagio und Rondo für Glasharmonika“. Im August stellt sie es mit überwältigendem Erfolg im Kärntnertortheater in Wien der Öffentlichkeit vor. Das Stück trägt nicht unwesentlich zu Berühmtheit der Kirchgessner bei. Es ist bis heute das wohl am häufigsten auf der Glasharmonika gespielten Stück. Zugleich ist es das letzte konzertante Werk Mozarts vor seinem Tod im Dezember desselben Jahres. In Berlin gibt die Kirchgessner zahllose Konzerte. Allein vor dem preußischen König Friedrich Wilhelm II spielt sie viermal. In London gastiert sie drei Jahre. Anschließend geht es nach Dänemark, ins Baltikum, nach Russland, durch Polen, zurück in die deutschen Lande und weiter nach Paris. Bei ihren Auftritten lässt sie keinen Ort aus, in dem es einen Saal für die sich drängelnden Zuschauern gibt. Mitte November 1808 macht sie in Stuttgart Station. Die Reise soll nach Schaffhausen in der Schweiz gehen. Zuvor möchte sie in der Umgebung noch Verwandte besuchen. Nur kann sie dazu ihre große, bequeme Reisekutsche nicht nehmen. Sie ist zu breit für einige der Engpässe, die es auf den ländlichen Wegen zu passieren gilt. Die Kirchgessner bricht daher in einem leichten, offenen Pferdewagen auf. Der Abstecher wird zur Höllenfahrt. Es herrscht kaltes, nebeliges Wetter. Erst verbringt sie eine halbe Nacht auf der Landstraße, weil der Kutscher zu Fuß aus dem nächsten Dorf Ersatz für die kaputte Laterne holen muss . Dann passt der Fuhrmann nicht auf und fährt in ein tiefes Schlagloch. Der Wagen kippt um und bleibt liegen. Nach einer Woche ist sie von dem kleinen Familienausflug glücklich wieder zurück. Bei der Ankunft in Schaffhausen hat sie leichtes Fieber. Nichts Gravierendes eigentlich, aber zwei Wochen später ist sie tot. Im Kloster Paradies bei Schaffhausen wird sie begraben. Die Anteilnahme der Öffentlichkeit ist fast so groß wie beim Tode Benjamin Franklin’s, dem Erfinder des Instruments, mit dem Marianne Kirchgessner auf die wundervollste Weise ihr Publikum verzückte. armonica.de
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