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Nachspiel Rätselhafte Phänomene Dass die Glasharmonika auch bei völlig gesunden Menschen Krisenzustände auslöste, davon berichten Augenzeugen und Presseberichte. In manchen Konzerten fielen die Besucher reihenweise in Ohnmacht. Selbst im Saal anwesende Hunde sollen in Schockstarre gefallen sein. Ernsthafte Schäden haben Hörer indessen keine davon getragen. Selbst Fans nicht, die kaum ein Konzert ausließen. Wer häufig auf dem Instrument mit dem „elektrischen Klang“ spielte, musste allerdings ganz andere Risiken gewärtigen. Friederike Bause, Tochter des berühmten Leipziger Kupferstechers und Akademieprofessors, zu dessen Schülern Goethe gehörte, galt als anerkannte Klaviervirtuosin. Carl Philipp Emanuel Bach widmete ihr ein Klavierkonzert, als sie gerade fünfzehn Jahre alt war. Die bewundernswerte Virtuosität, mit der sie Glasharmonika spielte, steigerte ihr Ansehen noch weiter. Niemand trug leidenschaftlicher, einfühlsamer und ausdruckstärker vor. Am 19.März 1785 ist in der Leipziger Zeitung eine Anzeige zu lesen „Friederike Bause verstarb nach einer vierzehntägigen schweren Krankheit“. Das traurige Ereignis erregt großes Aufsehen, zumal Krankheit und Tod völlig unerwartet kamen, die Ärzte keine Ursache erkennen konnten und die Verstorbene noch keine zwanzig Jahre alt war. Es dauerte nicht lange und Gerüchte machten die Runde, das häufige Spielen der Glasharmonika hätte Nerven und Gesundheit der Bause zerrüttet. Marianne Davies und ihr Schicksal hatte man in Deutschland aus den Augen verloren. Dieses Ereignis entfachte nun ein unglaubliches Interesse. Der Tod der Bause verlieh dem teils ängstlich getuschelten, teils abschätzig belächelten Ruf der Glasharmonika, sie sei ein dämonisches Instrument, eine konkrete Grundlage. Weitere Hinweise und Berichte bestätigten den Verdacht, das Spielen der Glasharmonika könne gesundheitliche Folgen haben. Röllig, der sich als Dirigent und Komponist einen Namen gemacht hatte, unternahm ab 1780 Konzertreisen mit der Glasharmonika. Sein Spiel wurde allgemein gelobt, so wie er die Wirkung des Instruments über alles pries. Er verglich sie mit Orpheus‘ Leier und erzählte gern die Geschichte zweier Männer, die sich in unbändigem Zorn aufeinander duellieren wollen. In dem Moment jedoch, als sie die Klänge einer Glasharmonika vernehmen, schmeißen sie die Waffen fort und sinken sich in die Arme. Einige Jahre später berichtet Röllig warnend von den gesundheitlichen Folgen seiner Zeit als viel beschäftigter Virtuose. „Anhaltendes Beben der Nerven, Zucken der Muskeln, Schwindel, Krämpfe, Geschwulst und Lähmung der Glieder waren stufenweise Folgen, in die mich eine zu heftige Leidenschaft für das Instrument stürzte. Am fürchterlichsten aber von allem war meine hierdurch krank gewordene Einbildungskraft, die mich mit offenen Augen träumen, am hellen Tage Gestalten aus allen Jahrhunderten vor mir aufsteigen ließ, mir bei Abend und Nacht Gespenster vorgaukelte, die sich mit jeder leichten Bewegung des Windes, mit jedem unbedeutenden Geräusch verbanden und mir den Untergang zu drohen schienen.“ Röllig ließ nicht als einziger nach langen Jahren als Virtuose die Glasharmonika links liegen. Frick, der so früh begann, durch Europa zu touren, schlug sich später in London als Musiktheoretiker und mit Klavier- und Cembalounterricht durch. In seinen letzten Lebensjahren schloss er sich einer christlichen Sekte an und behauptete, aufgrund einer göttlichen Inspiration den Auftrag zu haben, der Menschheit den baldigen Beginn Christi Königreich verkünden zu müssen. Friedrich Rochlitz, ein zu seiner Zeit hoch angesehener Musikkritiker, schreibt im November 1798 für die Allgemeine Musikalische Zeitung einen Artikel betitelt „Ueber die vermeynte Schädlichkeit des Harmonikaspiels“. Darin zitiert er die „fast allgemeine Meynung“, das Spielen der Harmonika reize die Nerven, mache melancholisch, führe zu Abzehrung, schädige also die Gesundheit und zwar in körperlicher wie geistiger Hinsicht. Zu den Ursachen führt er lediglich Vermutungen an. Angeblich reizen die rotierenden und vibrierenden Glocken die empfindlichen Nerven der Fingerspitzen und die schneidenden und durchdringenden Töne die des Gehörs. Die empfindsamen und melancholischen Stücke verursachen Schwermut. Rochlitz‘ Empfehlungen sind klar und eindeutig. Nervenkranke Personen sollen sich des Spiels auf der Glasharmonika enthalten, ebenso, wer in schwermütiger Stimmung ist. Der Versuchung, sich in später Nacht an das Instrument zu setzen, sollte man unbedingt widerstehen. Überhaupt ist allzu häufiges Spielen der Glasharmonika von Übel. Über die mysteriösen Symptome wird nicht nur in Musikerkreisen viel diskutiert. Mahnungen und Warnungen nehmen teilweise hysterische Züge an. Lichtenberg, dem man als experimentellem Physiker und aufgeklärtem Philosophen kaum einen Hang zu Übertreibung oder Panikmache nachsagen kann, empfiehlt, die rätselhaften Phänomene genauer zu untersuchen. Geklärt wurden sie allerdings nicht. Weder liegen aus der Zeit erschöpfende Beobachtungen noch fachkundige Untersuchungsberichte vor, anhand derer man mit heutigem Wissen versuchen könnte, Licht ins Dunkel zu bringen. So teilt Cecilia Davies in Paris Franklin nur mit, wegen ihrer Krankheit wolle ihre Schwester Marianne nicht auswärts essen und am liebsten das Haus nicht verlassen. Carl Ferdinand Pohl, einem weiteren Harmonikavirtuosen, ergeht es ähnlich. Pohl kam im Jahre 1817 als Musiklehrer der Großherzogin Luise nach Darmstadt, nachdem er zuvor mehr als zehn Jahre in Deutschland, Russland, Italien, Schweden und der Schweiz auf der Glasharmonika Konzerte gab. Offensichtlich fand die Fürstin an seinem Spiel Gefallen, denn kurze Zeit später wurde er als Kammermusikus an das berühmte Hoforchester berufen. Er war gerade vierzig Jahre alt, als sein Gesundheitszustand sich zu verschlechtern begann. Aufgrund ärztlicher Gutachten wurde er in das Landeskrankenhaus in Hofheim eingewiesen. Ein untersuchender Arzt konstatierte, der Patient sei leicht reizbar, verfalle bisweilen in Raserei und leide unter religiösen Phantastereien. Letzteres bringt der Mediziner jedoch nicht mit der Glasharmonika in Zusammenhang, sondern führt es darauf zurück, dass der Patient als Katholik eine geschiedene Frau geheiratet hat. Harmonische Handwerker und werkelnde Virtuosen Der Musiker war Sohn des Tischlers Franz Ferdinand Pohl aus Kreibitz in Böhmen. Pohl Vater hatte um 1780 in der Zeitung über die Glasharmonika gelesen und den Entschluss gefasst, selber eine zu bauen. Dabei kam ihm die Tatsache entgegen, dass in der Nähe eine Glashütte betrieben wurde, die Käseglocken herstellte. Tatsächlich erhält er von dort einen Satz wohlklingender Gläser. Pohl Vater ist geschäftstüchtig genug, seine unter viel Mühen hergestellte erste Harmonika verkaufen zu können. Aus der anfänglichen Bastelei wurde bald eine bekannte Werkstatt. Pohl bereist Messen in Leipzig, Prag, Wien und findet zahlungskräftige Kunden. Einer der Söhne übernimmt später das Geschäft und stellt auf der Messe in London aus. Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Fertigung von Glasharmoniken in der Familie Pohl von einem Sohn auf den nächsten weiter gegeben. Die Pohls wurden die bekanntesten Glasharmonikahersteller überhaupt. Ihr Vertriebssystem war breit gefächert und tief strukturiert. Wer außer ihnen noch das Instrument anfertigte und wie viele davon insgesamt gebaut wurden, ist nicht einmal als grobe Schätzung nachzuvollziehen. Nicht wenige bastelten sich ihre Glasharmonika selber. Annoncen priesen in einschlägigen Zeitungen aufeinander abgestimmte Sätze von Glocken an. Der Rest wurde daheim zurecht gesägt und geschraubt. Ungeschickte gaben ihr Instrument bei Fachleuten in Auftrag. Ambulante Handwerker zogen durch die Lande, die sich mehr oder minder auf die Herstellung von Glasharmoniken spezialisierten. Lieferanten schickten Teilesets, die an Ort und Stelle montiert wurden. Die meisten dieser „Instrumentenbauer“ werden einer Anleitung zum Bau von Glasharmoniken gefolgt sein, wie sie schon Franklin verfasste. Kenner der Materie begnügten sich bald nicht mehr mit dem Urmodell und entwickelten es weiter, um den musikalischen Wert des Instruments zu steigern. Immer mehr Glocken wurden auf eine Spindel gesteckt, der Tonumfang bis auf sieben Oktaven gesteigert. Oder man brachte mehrere Spindeln übereinander an wie beim Manual einer Orgel. Zum optimalen Regulieren der Umdrehungsgeschwindigkeit wurde jede Spindel einzeln angetrieben. In Paris ließ sich 1788 die königliche Akademie eine Glasharmonika präsentieren, die eine Vorrichtung zum Transponieren besaß. Besonders anspruchsvolle Erfinder verbanden die Glasharmonika mit allen möglichen weiteren Klangkörpern, Pianofortes, Flöten- und Oboenregistern, Pfeifenwerke, Saiteninstrumente. In London fertigte der Mechaniker Fröschl für die Kirchgessner eine Glasharmonika mit Resonanzboden, um einen volleren Klang zu erhalten. Der Erfindungsgeist kümmerte sich um jedes Einzelteil des geschätzten Instruments. Es gab Vorrichtungen zum automatischen Befeuchten der Glockenränder. Mit Material und Form der Glocken wurde andauernd experimentiert. Dem Antriebsmechanismus galten immer wieder besondere Bemühungen. Selbst einen neuen Namen ließ sich jemand einfallen und nannte die Glasharmonika „Instrument de Parnasse“. Ganz zu schweigen von der Unzahl an Rezepten für die Herstellung von Tinkturen zum Befeuchten der Finger beim Spielen. Der anspruchsvolle Virtuose rührte sie unter allen möglichen Vorkehrungen strengster Geheimhaltung mit speziellen Ingredienzien selber an. Findige Apotheker vertrieben Mischungen, die in ihren Laboren nach erprobten Verfahren unter Einsatz ausgewählter und geprüfter Zutaten erschaffen worden waren. Mit den Nachrichten über zu befürchtende Folgen des Spielens kam zusätzlicher Schwung in die Weiterentwicklungen. Sie dienten nicht mehr nur dazu, dem Hörer einen immer größeren Musikgenuss zu bescheren. Sie sollten gleichzeitig den Spieler vor schädigenden Auswirkungen bewahren. Dass mancher Virtuose die Dinge selber voran zu treiben suchte, nimmt nicht weiter wunder. Röllig etwa erdachte eine Glasharmonika mit Tastatur. Sie wurde wie ein Klavier gespielt, nur dass die Hämmer nicht ausgelöst wurden, sondern auf die Ränder der Glasglocken drückten. Eine direkte Berührung der rotierenden Gläser mit den Fingern wurde somit vermieden. Er war nicht der einzige, der diesen Vorschlag machte und bald stritt man, wem der Ruhm des wahren Erfinders gebührte. Beim Modell eines anderen Erfinders wurden die Glocken mit einem Violinbogen angeregt. Die Weiterentwicklungen waren nach Zahl und Art zu umfangreich, um sie lückenlos nachvollziehen zu können. Die Glasharmonika heute In Zeiten von Moogs und all den sonstigen Synthesizern, E- Gitarren, Digitalpianos und was die Elektronik sonst noch an Instrumenten bietet, ist der ganze hype um die Glasharmonika kaum zu verstehen. Im Vergleich zu diesen modernen Klanggeneratoren war ihr Tonumfang mehr als begrenzt, die Lautstärke geradezu mickrig. In der Zeit um 1800 traf sie allerdings, besonders in Deutschland, eine Stimmungslage, die ihre exotischen, zarten Klänge begierig aufnahm und sie für außerirdisch hielt. E. T. A. Hoffmann, der große Kenner der Musik, vermutete den unglaublichen Erfolg der Glasharmonika darin, „dass sich das Instrument aller empfindsamen Seelen bemächtigte“. Da wird er wohl recht haben und viel mehr verlangte der Verehrer von seinem Instrument auch gar nicht. Die „Franklin‘sche“ Glasharmonika findet man heutzutage, wenn überhaupt, nur noch in Museen. Leider steht sie dort häufig still in einer Ecke oder wurde gar in den Keller geräumt. Wenn man überhaupt eine Glasharmonika zu hören bekommt, ist es meist ein modernes Instrument, bei dem der oft hakelige und bisweilen quietschende Tretmechanismus durch einen Elektromotor ersetzt wurde. Wer den Klang der Glasharmonika selber erleben möchte, suche in den Konzertankündigungen der Lokalredaktionen oder schaue sich im Internet um. Wem das Warten auf ein live Konzert zu lange dauert, mag sich eine CD kaufen und zu hause anhören. Weiter zu “Galerie” Weiter zu “Lesetipps” Weiter zu “Links”